Acceptance Speech (German)

Majestät, Königliche Hoheiten, meine Damen und Herren,

In diesem Moment den Mund aufzumachen ist nicht ganz einfach. Speziell nicht für jemanden der eigentlich ein Schwätzer ist. Wir, Theaterleute, sind eine merkwürdige Rasse. Speziell die Regisseure unter den Theaterleute sind nochmal eine ganz besondere Spezies. Und ich kann unmöglich beginnen ohne zuzunehmen das was wir gerade gesehen haben.
Auf Grund eines wahrscheinlich kleinen Fehlers und einer kleinen Ungenauigkeit haben wir zweimal dieselbe Szene gesehen. Es wäre natürlich lustiger gewesen wir hätten eine andere Szene aus Tasso gesehen. Wir haben zweimal dieselbe Szene einmal gehört und von einer Schauspielerin vorgelesen und einmal gesehen, inszeniert, allerdings hundert Jahre her, von einem mittelmässig begabten Regisseur.
Was ist das Ergebnis? Der Text, den diese Schauspielerin vorgelesen hat, fasziniert; die Dinge die wir hier gesehen haben relativieren; das ist die grosse Crux für einen Regisseur. Das ist das was ich am Augenblick erfahren habe. Ein Schauspieler ist mit Links in der Lage einen Regisseur überflüssig zu machen. Deswegen habe ich ein bisschen Probleme mich hier jetzt zu äussern. Aber da das so ein offizieler Anlass ist habe ich mir vorgenommen eine Rede zu schreiben und die Dinge aufzuschreiben. Normalerweise rede ich frei. Und ich habe ja eigentlich keine Lust es vorzulesen, aber ich tue es jetzt trotzdem, weil ich so geschrieben habe; die Erfahrung des Schreibens hat widerum ein neues Leiden mit sich gebracht, weil ich nähmlich festgestellt habe das was ich schon lange weiss: das ich eben nicht schreiben kann. Was wiederum ein Grund ist weshalb ich zum Theater gegangen bin. Ich darf Ihnen das jetzt also vorlesen.

Die Kunst, die ich ausübe, gehört, obwohl sie stets die Öffentlichkeit sucht, zu den menslichen Tätigkeiten, die am wenigsten Spuren hinterlassen. Darum wird ihr im positiven Falle in der Form des Applauses spontane Anerkennung zuteil. Den Moment überragende Ehrungen, die sich ja auf ein überdauerndes, konsistentes, vorzeigbares Werk beziehen müssen, sind für uns Theaterleute eigentlich nicht angemessen. Wenn ich also diesen wunderbaren Preis entgegennehmen soll, meldet sich sogleich das keineswegs dumpfe Gefühl in mir, ihn mitnichten verdient zu haben. Von dieser emotionellen Gemengelage hebt sich deutlich der Stolz ab auf die europäische Dimension des Erasmus-Preises. In der Tat ist meine Arbeit von Anfang an ohne die Ausrichtung auf Europa als Ganzes undenkbar, gerade weil ich an die Regionalität, ja Provinzialität als Grundlage des Theaters glaube.
Zu einer Zeit, als das rein organisatorisch nicht so leicht zu bewerkstelligen war, wurden meine Lehrer in den 50-er und frühen 60-er Jahren die grossen Schauspieler und Regisseure in Mailand, Paris, Rom, London und später Moskau. Ihnen allen danke ich es, dass sie mir halfen, den schlimmsten Mangel der deutschen “Theater-Schule” zu erkennen, und – vielleicht – zu überwinden: den verbohrten Blick auf sich selbst, das sich selbst zu ernst nehmen als Verschluss des Ausdrucks, als Verklemmung, anstatt als Vertiefung des Empfundenen oder Gedachten. Und nachdem in den letzten Jahren mir Schauspieler in verschiedenen europäischen Ländern die Gelegenheit gaben, mit ihnen zu arbeiten, konnte ich den ganzen Reichtum der Möglichkeiten europäischen Theaters kennen lernen:
der italienische Schauspieler erlebt instinktiv die Räumlichkeit unserer Kunst, die er lustvoll mit Gesten und Körperbewegungen organisiert. Ihm ist die öffentliche Dimension des Theaters vertraut, er liebt sie, er will sich zeigen, und zeigt eben dieses. Auf Sinnlichkeit des Spiels ist er aus, so wird ihm Sprache rasch, allzu rasch zu Musik. Er macht ständig deutlich dass er sich auf der Bühne befindet, theaterverliebt, wie er ist, und sucht bedingungslos den Kontakt mit dem Publikum.

Der französische Schauspieler verfügt über das grösste Formbewusstsein, er spielt schnell, schlank, ist zu Verdichtung und Reduktion fähig, liebt das Gedankenspiel, steht ständig unter Hochdruck, ist darum oft zu laut, zu aufgeregt, gibt dafür standig den Eindruck der Geformtheit, des Kalkulierten, des Beabsichtigten. Ihm ist die Bühne ein Schachbrett, auf dem die Spielzüge über Erfolg und Niederlage entscheiden. Ist das Brio des Italieners oft allzu herzenswarm, so ist das seine oft recht kalt.

Der Schauspieler Englands tut so, als ginge er auf die Bühne ‘wie er ist’. Die Untertreibung ist das Augenzwinkern, mit dem er Kontakt zum Publikum sucht. Auf Grund des Reichtums der englischen Sprache stehen ihm die grössten Möglichkeiten für Wortspiele offen, und er nützt sie ohne Scham. Er ist der effektbewussteste Schauspieler, von ihm stammen die meisten, von allen Schauspielern anerkannten Regeln, darunter vorallem das berühmte “timing” – die Beachtung der Pausen- und Zäsurenlängen für Texte und Handlungen auf der Bühne, um die grösstmögliche Wirkung zu erzielen. Er tummelt sich so selbtstverständlich auf der Bühne wie sonst kein europäischer Schauspieler, darüberhinaus ist er der einzige, der über Shakespeares Originalklang verfügen kann. Dieses spezielle Erbe wird den englischen Schauspieler immer eine Sonderstellung einnehmen lassen, er weiss es, glaubt deshalb manchmal, ausserhalb seiner Insel gäbe es gar kein Theater. Die erstaunlichen rhetorischen Kräfte, die ihm aus dem Stand zuzuwachsen scheinen, wenn er die grossen Shakespeare-Texte in den Mund nimmt, neiden ihm alle Schauspieler Europas, während der russische Schauspieler um seine Intensität beneidet wird.

Er ist in der Lage, ein einmal gefundenes und empfundenes Gefühl so auszubauen, so zu entwickeln und durchzuhalten, dass der Zuschauer besonders der westeuropaïsche, ohnmächtig davon erfasst, beeindruckt und geradezu niedergedrückt werden kann. Er verfügt, oder sollte ich sagen: verfügte, über Techniken und Spielweisen, die in Westeuropa längst vergessen und ausgestorben sind – auch wenn diese Techniken einst aus Frankreich oder England importiert waren. Er scheint unendlich viel Zeit zu haben, Variation ist nicht sein Fall, Einfühlung ist ihm nicht Problem, sondern Lebenselixier. Verkörperung und reale Wahrhaftigkeit sind bei ihm am meisten zu bewundern, kein europäischer Schauspieler stirbt auf der Bühne erschreckender als er.

Dem deutschen Schauspieler nun ist es keineswegs eine Selbst- verständlichkeit, auf die Bühne zu gehen, er fragt gern danach, wie hoch sie ist, welchen Grund es dafür gibt, ist voller Skrupel und in der Tat in vieler Hinsicht behindert: die grösste Geste ist ihm rasch äusserlich, jede Rhetorik hohl, das Gefühl verlogen und letztlich findet er sich nicht schön auf der Bühne. Dadurch kommt es bei ihm in allen diesen Zusammenhängen zu Ausdrucksstaus, die sich gelegentlich im “Ausbruch” entladen. Das expressionistische Theater gibt es nur in deutscher Zunge. Seltsamerweise gelingt es dem deutschen Schauspieler, vielleicht als einzigem europäischen Spieler aus dieser Situation heraus, die so divergenten Elemente des Theaters mit seiner Skrupelosität ausgewogen zu fassen und darzustellen – es gelingt ihm sogar erstaunlich oft. Es gibt, oder gab im deutschen Schauspieler immer ein dramaturgisches Bewusstsein und im besten Fall ein Verantwortungsgefühl für das Ganze. Darum und nicht nur um seine Subventionsmillionen und – noch – erstaunlich vielen Zuschauer beneiden ihn seine europäischen Kollegen.

Bei dieser notwendigerweise vereinfachten, verallgemeinernden Aufzählung habe ich die jeweiligen Besonderheiten der komischen Begabungen weggelassen, weil ich eingefleischter “Tragiker” bin. Dieser Reichtum der Ausdrucksmittel, diese unterschiedlichen Beiträge zum europäischen Theater gilt es, kennenzulernen, will man dessen ganze Dimension ermessen, es gilt voneinander zu lernen, sich beeinflussen zu lassen, wenn man seine Kunst vervollkommen will, aber es gilt, sie nicht zu verpanschen.

Gewiss gibt es gemeinsame Traditionen und Impulse: die Einzigartigkeit des europäischen Theaters besteht in der gleichmässigen Anwesenheit ritueller, vorhistorischer, mimischer, zutiefst vorrationaler Elemente mit höchstentwickelt rationellen, intellektuellen, literarischen und konstruktiven Geformtheiten. Nimmt man noch die Offenheit zu Musik, Tanz, Malerei und Architektur dazu, so erscheint das europäische Theater in seiner Gesamtheit als die beeindruckendste Manifestation der theatralischen Fähigkeiten der Menschen, die existiert. Und wenn ich auch, wie Sie spüren, in Hinblick aufs Theater Eurozentrist bin, so ist es ohne die lokale, individuelle, regional bezogene Ausprägung doch nur Schall und Rauch.

Diese Kulturleistung des europäischen Geistes hat nun, neben seiner uralten Geschichte noch eine andere Last zu tragen: es ist die komplizierteste, personalintensivste und am schwersten zu organisierende Kunstform und kostet darum viel Geld. Immer war Theater, mehr als andere Künste, auf “Subvention” angewiesen, wie wir heute sagen. Im alten Athen wurde sogar der Theaterbesuch subventioniert. Wenn, wie gegenwärtig überall in Europa zu beobachten, aus wirtschaftlichen Gründen den Künsten und speziell dem Theater die Mittel gestrichen werden, so ist das gewiss populär und leicht zu begründen und trotzdem eine schädliche Politik. Die epochalen Probleme, vor denen die Menschheit steht, sind offenbar nicht mit der Ratio der Wirtschaftlichkeit, der Profite und mit dem Vertrauen auf Kräfte des Marktes zu lösen. Ökologische Lösungen, wie sie nötig sind, brauchen, um durchsetzbar zu sein, ein breites, kulturelles Bewusstsein der Menschen. So ist Investition in die Kultur direkte Investition in die Überlebenschancen der Menschheit. Hüten wir uns deshalb vor kurzsichtigen Entscheidungen. Das europäische Theater hat vielleicht seine zentrale Rolle im Kulturbewusstsein Europas verloren, dennoch ist es einer der wichtigsten Ausprägungen seiner kulturellen Identität – und hat seine Rolle längst nicht ausgespielt. Die Verleihung des Erasmus-Preises 1993 an einen Vertreter dieser Kunst empfinde ich als Bestätigung dessen und als Aufforderung, den Kampf um das Überleben des Theaters weiterzuführen. So nehme ich ihn bewegt und dankend entgegen.